Selbstüberwindung und Mitgefühl – Kurt Oesterle über seinen großen Europa-Roman
- Molino Redakteur
- 3. Juni 2024
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 22. Sept.

Ein Gastbeitrag von Kurt Oesterle zur Taschenausgabe seines Romans Die Stunde, in der
Europa erwachte.
Mein Roman spielt im Sommer 1919, ist aber kein historischer Roman, sondern ein Spiel mit der Phantasie, das sich historischen Materials bedient, ohne es zu verfälschen: Dabei stelle ich mir vor, wie Europa entsteht, täglich neu und immer wieder. Europa – nicht als Zusammenschluß von Staaten, als politische Institution, als Parlament und Regierung, nein, sondern – vorausgehend – als Bündnis unzähliger einzelner Menschen, die ihre nationale Zugehörigkeit zurückstellen, sich in Selbstüberwindung und Mitgefühl üben und eine gemeinsame Sprache suchen, in der sie einander nicht nur verbal verstehen können.
Als Zeitraum für meine literarische Projektion habe ich das Jahr gewählt, das unmittelbar auf den Ersten Weltkrieg folgte, ein Jahr, in dem eine gemeinsame europäische Zukunft – anders als nach dem Zweiten Weltkrieg – noch ein ziemlich unbeschriebenes Blatt war. Eine verpflichtende Gemeinsamkeit über nationale Grenzen hinweg schien damals noch keine echte Option – obwohl die Zeit sehr wohl reif dafür gewesen wäre … Inwiefern, das wird in meinem Roman durchgespielt. Dessen Handlung ist rein fiktional, ihr Ort ein kriegsverwüsteter Landstrich im nördlichen Frankreich, gelegen zwischen Reims und Laon, am sogenannten Chemin des Dames, in einer heute noch immer schwer gezeichneten Landschaft.
Zufällig treffen dort mehrere Personen aus verschiedenen europäischen Ländern aufeinander – jede von ihnen hat sehr starke persönliche Gründe, an diesem Ort aufzutauchen, und keine dieser Personen weiß, auf wen sie dort trifft und was sie mit den anderen insgeheim verbindet; erst im Lauf der Zeit wird es offenkundig werden …
Zuerst reist Minot an, ein 16-jähriger Franzose; seine Mutter hat ihn geschickt, damit er herausfindet, ob die alte Heimat der Familie noch bewohnbar sei. Der Junge bleibt zunächst für die Dauer der Ferien und übernimmt als Patron eine kleine Kneipe, das einzig heile Haus der Umgebung, in der Schlachtfeldsäuberer aus aller Herren Länder (vor allem Metall- und Knochensammler, die gefährlich leben, aber schnell reich werden) aus und ein gehen, doch gleichfalls Kriegsheimkehrer sowie Leute, die auf den soeben entstehenden Soldatenfriedhöfen ringsumher ihre Toten besuchen; Minots Lokal heißt übrigens Zur Heldin der Ruinen, und hinter dem Haus steht ein mächtiger Feldbackofen auf Rädern, den deutsche Truppen beim Abzug zurückgelassen haben.
Sodann taucht auf: das Ehepaar Krüger aus Esslingen, das seinen gefallenen Sohn Felix nach Hause überführen will – legal oder illegal! Krügers, halb verrückt vor Trauer, wollen ihr totes Kind unbedingt daheim im Famliengrab auf dem Stadtfriedhof haben und brüten besessen darüber, wie ihnen das gelingen könnte. Vielleicht können die Menschen, die ihnen in Minots Kneipe begegnen, ja bei diesem Unternehmen behilflich sein …
Gleichfalls vor Ort erscheint Elsie Norton, eine junge Engländerin, deren Mann seelisch schwer verwundet aus dem Krieg heimgekehrt ist, dessen nicht-körperliche Wunden ihr aber unbegreiflich geblieben sind. Aus Liebe und Verzweiflung bereist sie seine Schlachtorte, um den Krieg, der ihren Mann James traumatisiert hat, wenigstens halbwegs zu verstehen.
Ein weiterer Gast des Lokals ist der deutsche Kriegsgefangene Franz, der wie rund 300 000 andere Kriegsgefangene in Frankreich gezwungen wird, das Schlachtfeld abzuräumen, vor allem von Abertausenden Toten, die immer noch in üblem Zustand hier liegen – um das Land endlich wieder urbar zu machen. Franz, ein Physikstudent aus Leipzig, hat den Krieg für eine notwendige Naturtatsache gehalten und muß jetzt unter Qualen umdenken. Krank und ausgezehrt, droht er zu sterben – die junge Engländerin, die ihn dahinsiechen sieht, will nun das deutsche Ehepaar überzeugen, ihn zu retten und illegal im Auto mitzunehmen, ihren toten Sohn aber hier in seinem Soldatengrab zu belassen.
Völlig verirrt lebt in dieser Höllenlandschaft auch ein Sanitätshund mit Namen Gorm, den deutsche Truppen bei ihrem Abzug vergessen haben. Seine Leiden werden ausführlich geschildert – und am Ende ist es dieses geschundene und unschuldige Tier, das dem im Krieg verkümmerten Mitleid der Menschen wieder auf die Sprünge hilft. Ein geradezu mystischer Moment, der zum Erwachen unverzichtbar ist, weil zu Europa eben auch ein spirituelles Verhältnis zwischen Mensch und Tier, Mensch und Natur gehört. Darum auch wird in diesem Roman viel Sorgfalt darauf verwendet, in immer neuen Varianten zu schildern, welch entsetzliche Spuren der Krieg in der Natur- und Kulturlandschaft dieser Region hinterlassen hat, etwa in dem Kapitel „Im singenden Trichter“, in dem es um das größte Sprengloch an der Westfront geht (das heute noch besteht). Alles in allem übrigens Beschreibungen, die der Krieg in der Ukraine in den letzten zwei Jahren auf düstere Art aktualisiert hat …
Viel Genauigkeit wird ebenso auf die Sprachproblematik verwendet – kaum eine/r beherrschte im Europa von 1919 eine Fremdsprache, ganz im Unterschied zu heute. Elsie fällt bei ihrer Anreise etwa auf „noch nie unter Menschen gewesen zu sein, die sie nicht verstand, doch kaum betrat man Europa, schon war man in Sprachnot“. Lediglich ein „Grenzlandeuropäer“, der polyglotte Pole Jan, kann für die Vertreter der europäischen Mitte bisweilen übersetzen, was nicht selten mit einiger Komik geschieht – doch ist dieser weltoffene Mann aus dem Osten weit und breit der Einzige, der dieses Europa der Mitte gleichsam am Laufen hält (vielleicht ein Gleichnis für spätere Zeiten …?)
Schluß- und Höhepunkte des Romans sind die beiden Versuche, den geplagten Hund sowie den sterbenden Kriegsgefangenen zu retten – damit blitzen humane Traditionen auf, die schon immer in Europa angelegt waren, doch ständig davor bewahrt werden müssen, nicht verschüttet zu gehen und zu verschwinden. Eben so wie Europa selbst, dessen (nicht nur politische, sondern auch mentale) Einheit gegenwärtig Populisten überall auf dem Kontinent nur zu gern wieder in einzelne, egoistische Nationalstaaten zerlegen würden …



