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Warum Deutschland Einwanderung braucht: Nejdet Niflioglu im Gespräch über sein neues Buch und die Herausforderungen der Zukunft

Aktualisiert: 22. Sept.


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In seinem neuen Buch „Von Gastarbeitern zu Hoffnungsträgern“ teilt der renommierte Politikberater und ehemalige Diversity-Manager von Daimler, Nejdet Niflioglu, seine persönliche Migrationsgeschichte. Mit klaren Thesen und einem Appell für mehr gesellschaftliches Engagement wirft er einen kritischen Blick auf Deutschlands Verhältnis zu Einwanderern. Wir haben nochmal nachgefragt: nach Sorgen der Zukunft, die Bedeutung von Einwanderung und mögliche Lösungswege, die er in seinem Buch aufzeigt.


Ihr Buch handelt von der Zuwanderergesellschaft und allen voran von Ihrer eigenen Familie. Was hat Sie dazu inspiriert, Ihre eigenen Erfahrungen in diesem Buch zu teilen?

Das Thema betrifft jeden, wird aber trotzdem sehr individuell erlebt. Meine Meinung ist, dass jeder nur über seine eigenen Erfahrungen und seine Sicht der Dinge reden sollte. Integration ist ja kein abstraktes Thema. Jeder, der schonmal in ein anderes Wohnviertel umgezogen ist, oder den Arbeitsplatz gewechselt hat, besitzt Integrationserfahrung. Diese sind jedoch sehr individuell und können nicht verallgemeinert werden. Je nach Umfeld und gebotenen Angeboten verläuft die Integration sehr unterschiedlich. Jede Person, die sich in bisherigen Wohnvierteln oder Arbeitsplätzen erfolgreich und mühelos integrieren konnte, kann in ungünstigeren Fällen negative Erfahrungen machen. Entscheiden ist, ob die persönlichen Präferenzen geboten sind. Genauso verhält es sich auch bei der Arbeitsmigration von Menschen aus dem Ausland nach Deutschland. Es ist sehr vermessen, hierzu allgemeingültige Aussagen zu machen. In der Vergangenheit wurde vieles richtig gemacht im Aufnahmeland Deutschland. Durch die Veränderung der gesellschaftlichen Zusammensetzung wird das heute leider kaum gesehen. Diese Aspekte möchte ich zur Geltung bringen und gemeinsame Ziele setzen für eine gemeinsame Zukunft in diesem Land. Das kann ich nur aus meiner eigenen Erfahrung und meiner eigenen Sicht tun.


Sie betonen, dass Deutschland nicht nur Fachkräfte, sondern auch echte Gesellschaftskräfte benötigt. Was verstehen Sie unter „echten Gesellschaftskräften“ und warum sind sie so wichtig für die Zukunft des Landes?

In meinem Buch habe ich versucht, die Faktoren für den hohen Lebensstandard in Deutschland kurz zusammenzufassen. Bei genauerer Betrachtung stellen wir fest, dass viele dieser Faktoren auf ehrenamtlichen Engagements aufbauen. In Deutschland ist es selbstverständlich, dass Mitbürgern in Not geholfen wird. Ersthelfer, Rettungssanitäter, Freiwillige Feuerwehr und DLRG decken große Bereiche ab, die nicht durch professionelle Einsatzkräfte versorgt werden können. Besonders außerhalb von Ballungsräumen oder im ländlichen Raum erfolgt die Nothilfe fast ausschließlich über die Freiwilligenorganisationen. Durch den demographischen Wandel droht uns nicht nur die Verknappung an Arbeitskräften in der deutschen Wirtschaft, sondern auch in diesen Freiwilligenorganisationen. Im Gegensatz zu Wirtschaftsunternehmen haben die Freiwilligenorganisationen jedoch keine Möglichkeit, ausgebildeten Nachwuchs aus dem Ausland zu rekrutieren. Sie müssen Jugendliche für das Ehrenamt begeistern und für ihre Aufgaben ausbilden. Hier möchte ich darauf hinweisen, dass sich diese Organisationen frühzeitig öffnen für zugewanderte Menschen, die ihren Arbeits- und Lebensmittelpunkt nun in Deutschland haben. Nur so können wir den hohen Lebensstandard in Deutschland auch in Zukunft beibehalten. Auch auf die Gefahren im Einkommensgefälle und der Altersarmut sowie deren Auswirkung auf die kommunale Politik habe ich in meinem Buch hingewiesen. Im föderalen System der Bundesrepublik Deutschland ist es manchmal schwer, den Überblick über Kommune- Land und Bund zu behalten. Aus meiner Sicht gehören diese Informationen unbedingt zu einer erfolgreichen Integrationspolitik. Denn jeder, der in dieses Land kommt möchte in einer wirtschaftlich und sozial starken Gemeinschaft in Frieden und Sicherheit leben. Dazu gehört eben auch die Möglichkeit Verantwortung zu übernehmen für soziale Themen. Verantwortung setzt jedoch voraus, dass man informiert ist und wichtige Zusammenhänge kennt.


Inwiefern hat Ihr Hintergrund als Diversity-Manager bei Daimler Ihre Sichtweise auf die Rolle von Einwanderung in der deutschen Gesellschaft geprägt?

Als ich meine Tätigkeit antrat, gab es weder den Begriff Diversity, noch das Berufsbild eines Diversity-Managers. Ich gehöre zu den ersten Diversity-Managern in der deutschen Industrielandschaft. Nicht die Tätigkeit hat meine Sicht geprägt, viel mehr ergriff ich die Chance, eigene Erfahrungen mit wirtschaftlichen Belangen zu verknüpfen. Als Gründer und Leiter des ersten Mitarbeiternetzwerks der deutschen Industrielandschaft, dem Daimler Türk-Treff hatte ich bereits jahrelange Erfahrung mit Vielfältigkeitsthemen. Meine schriftlich verfassten Grundsätze zu Gründung und Leitung von Mitarbeiternetzwerken bildeten die Grundlage des Diversitymanagements in Deutschland. Später erklärte der Daimler Konzern in einer Presseinformation -Daimler Türk-Treff bildet das Vorbild aller unserer Diversityaktivitäten im Konzern-. Aufgrund meiner türkischen Herkunft liegt der Verdacht nahe, dass meine Tätigkeit vorrangig mit türkischen Themen begrenzt gewesen sei. Doch Internationalisierung ist nur eine von vielen Dimensionen des Diversitymanagements. In einem globalen Unternehmen mussten wir unsere Arbeitsschwerpunkte gleichberechtigt clustern. In Deutschland ist Gender-Diversity eines der führenden Themen. Hier ging es uns zunächst vorrangig darum, junge Frauen für MINT Berufe (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) zu begeistern, die besten Absolventinnen für unser Unternehmen zu begeistern, Potenzialträgerinnen zu fördern, einen Karriereknick im Berufsleben zu vermeiden und mehr Frauen den Aufstieg in Führungsebenen zu ermöglichen. Wissenschaftliche Studien untermauerten einige meiner Aussagen zu Themen wie sozialer Aufstieg türkischstämmiger Menschen und ihrem Konsumverhalten sowie ihrer Markenbindung. Es gab Unternehmen, die solche Sachverhalte als Ethno-Marketing nutzen wollten. Wir haben sie bei Daimler jedoch als Unternehmenskultur verankert und meine Aussage -Wertschöpfung durch Wertschätzung- hat sich über viele Jahre bewahrheitet und wir konnten die Arbeitsleistung aller unserer Mitarbeitenden im Produktentstehungsprozess unserer Produkte glaubhaft belegen. So gelang es uns, Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, auf die wir alle gemeinsam stolz sein konnten und diese in den internationalen Märkten noch erfolgreicher platzieren konnten. Diversitymanagement hat also nicht nur soziale Aspekte, sondern durchaus auch wirtschaftliche Auswirkungen.


Ihr Buch enthält klare und streitbare Thesen. Welche konkreten Herausforderungen sehen Sie für Deutschland in Bezug auf Einwanderung und Integration und wie können diese bewältigt werden?

Mein Buch basiert auf meiner Autobiographie, somit auf meinen eigenen Erfahrungen. Viele der beschriebenen Szenen werden bei Nachfahren der Arbeitsmigranten Erinnerungen wecken, weil sie diese genauso erlebt haben. Natürlich wurde auch ich geprägt durch meine Sozialisierung in der Familie, in der Schule und meinem Wohnort. Dass diese Sozialisierung sehr individuell ist, kann ich nicht abstreiten. Sie trug zu meiner persönlichen Entwicklung bei und machte aus mir die Persönlichkeit, die ich heute bin. Meine Thesen sind nicht neu. Viele meiner Aussagen habe ich schon vor vielen Jahren aufgestellt. Einige meiner Befürchtungen, die ich vor Jahren formulierte haben sich bereits erfüllt. Dass mitten im Sommer Badeseen und Freibäder mangels ausgebildeter Schwimmmeister geschlossen bleiben mussten haben wir schon erlebt. Leider sind nicht alle gesellschaftlichen Entwicklungen umkehrbar. Für die Zukunft brauchen mehrere Konzepte. Das erste betrifft die Menschen, die bereits hier leben. Wir brauchen Konzepte für Bildung, Wertschätzung und gesellschaftliche Teilhabe. Das zweite betrifft Menschen, die neu ankommen. Für diese brauchen wir neue welcome packages, mit Informationen die, Vorsorge, Bildungssystem und Möglichkeiten zur Partizipation einschließen. Ein weiteres Konzept benötigen wir für die Auswahl der Menschen, die wir aus rechtlichen Gründen nicht abweisen können. Welche Möglichkeiten haben wir, diese Menschen aus dem Rand der Gesellschaft zu holen und Entwicklungsmöglichkeiten für sie zu schaffen, die ihnen auch im Falle einer Rückführung helfen können. Inhaltlich bin ich gerne bereit zielführende Diskussionen zu führen. Eine grundsätzliche Ablehnung wird uns gesellschaftlich keinen Nutzen bringen.


Sie erwähnen, dass bestimmte Bereiche wie die Katastrophenhilfe nicht einfach durch Recruiting aus dem Ausland besetzt werden können. Welche Lösungswege schlagen Sie vor, um den Bedarf an Erfahrung und Arbeit zu decken?

Die Ausbildung der Katastrophenhelfer beim THW oder von Feuerwehrleuten bei den Freiwilligen Feuerwehren dauert mehrere Jahre und beginnt oft in frühester Jugend. Ähnliche Verhältnisse gibt es bei Rettungskräften und DLRG. Wer sich hier engagiert, tut es ehrenamtlich ohne monetäre Interessen. Das sind schon zwei Argumente, die eine Rekrutierung aus dem Ausland ausschließen. Die Organisationen müssen sich öffnen für Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt nach Deutschland verlegt haben. Genauso wie es Wirtschaftsunternehmen und Sportvereine bereits getan haben, müssen auch die Freiwilligenorganisationen auf kulturelle und religiöse Vielfältigkeit ihrer Zielgruppe Rücksicht nehmen. Wir müssen hier keine revolutionären Veränderungen anstoßen: Schon das Essensangebot Z.B. Rote Wurst und Bier, um alkoholfreie Getränke und Speisen ohne Schweinefleisch zu erweitern signalisiert kulturelle Öffnung und würde die Teilnahme größerer Bevölkerungsgruppen an Feuerwehrfesten ermöglichen.


Deutschland steht vor demografischem Wandel und Fachkräftemangel. Wie können wir sicherstellen, dass Einwanderung wirklich eine vielfältigere und lebendigere Gesellschaft schafft?

In meinem Buch habe ich ein Beispiel genannt, das jeder nachvollziehen kann. Die attraktivsten Lebensräume bilden multikulturelle Metropolen mit ihren fast unerschöpflichen kulturellen und kulinarischen Angeboten für ihre Einwohner und Besucher. Kulturelle Begegnungen waren schon immer die Keimzellen der menschlichen Entwicklung. Der demographische Wandel bietet uns die Chance, qualifizierte Potenzialträgerinnen und Potenzialträger anzuwerben. Gleichzeitig ist das auch eine Chance, die gesellschaftliche Entwicklung im Land zu steuern. Wenn wir aufhören Kulturen nach eigenen Maßstäben zu klassifizieren und diese dominieren zu wollen, können wir gemeinsam tolle Erfolge erzielen. Wenn wir den Dingen ihren Lauf lassen, Entwicklungen nicht bewusst steuern und Bodenrechte gegen Blutrechte ausspielen wird uns das nicht gelingen. Ich spreche mich klar für eine starke Gesellschaft mit einem hohen gesellschaftlichen Engagement aus. Eine starke Gesellschaft, in der wir alle gut, sicher und gesund leben können.




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