top of page
  • Instagram
  • TikTok
  • LinkedIn

Kunst gegen Krieg: Warum das Buch „Ikonen auf Munitionskisten“ mehr ist als ein Bildband

Aktualisiert: 22. Sept.


ree

Im Herbst veröffentlichen Oleksandr Klymenko und Sonia Atlantova ihr bemerkenswertes Buch „Ikonen auf Munitionskisten“. Seit einem Jahrzehnt verwandeln die Künstler Munitionskisten von der Ostfront des Ukrainekriegs in ausdrucksstarke Kunstwerke und spenden die Erlöse ihrer Arbeit an zivile Hilfsprojekte. Agnes Slunitschek, Mitinitiatorin der deutschen Publikation und Dozentin an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Würzburg, teilt ihre Erfahrungen und Einblicke. Im Gespräch erläutert sie die Reaktionen auf die Ausstellungen, diskutiert die Schnittstellen zwischen religiöser und politischer Kunst und beleuchtet die tiefere Bedeutung hinter der Ikonenmalerei.


Frau Slunitschek, im Buch, an dem Sie als Mitinitiatorin und Redakteurin mitgewirkt haben, geht es um Ikonenmalerei. Die Werke schaffen neue Perspektiven auf den Krieg in der Ukraine. Dabei handelt es sich nicht um unverständliche Kunst, sondern um technisch perfekte und wunderschöne Werke. Können Sie für alle, die keine Ahnung von Ikonen haben, verraten, was es mit dieser alten christlichen Kunst auf sich hat?

Ikonen sind keine Kunstbilder, sondern Kultbilder der orthodoxen Christen. Sie sind die gemalte Botschaft der Bibel, Theologie in Bildern. Sie stellen nicht die irdische, sondern die göttliche, erlöste Welt dar und machen sie sogar gegenwärtig – denn nach orthodoxem Glauben ist das Göttliche in der Ikone anwesend. Darum werden Ikonen auch verehrt – genau genommen nicht die Bilder, sondern die darauf abgebildeten Heiligen und durch sie Jesus Christus. In der Anwesenheit des Göttlichen im Bild besteht das Transformierende der Ikonen auf Munitionskisten: Im Kriegsmaterial bricht das Göttliche in die Welt ein und verwandelt das Material, es lässt die göttliche Welt aufleuchten. Da sie eine Welt des Friedens und der Versöhnung ist, transportieren die Ikonen auf Munitionskisten diese Botschaft und Hoffnung.


Könnten Sie den kreativen Prozess beschreiben, der hinter der Herstellung einer Ikone auf einer Munitionskiste steckt? Wie wählen die Künstler die Motive und Materialien aus?

Bei „normalen“ Ikonen ist der Entstehungsprozess kein künstlerischer, sondern ein spiritueller Akt, eben weil es sich um Kult- und nicht um Kunstbilder handelt. Damit die Personen erkannt und die Botschaft verstanden werden, ist traditionell sehr stark festgelegt, wie eine Ikone zu malen ist. Unsere Künstler folgen den Vorgaben nicht streng, sind aber sehr nah an diesem traditionellen Stil. Darum ist besonders aussagekräftig, wo sie davon abweichen.


ree

Das ist in erster Linie der Hintergrund. Das Einzigartige ihrer Ikonen ist, dass sie auf Munitionskistenteile aus dem Krieg Russlands gegen die Ukraine gemalt sind. Auf diese Idee kam Oleksandr Klymenko bei einem Frontbesuch: Ihn erinnerte die Machart der Kisten an die Holztafeln, auf die die Ikonen traditionell gemalt werden. Das Außergewöhnlich ist also nicht das Holz an sich, sondern dass es vorher Munitionskisten waren und das sichtbar bleibt. Denn die beiden grundieren den Untergrund nicht, wie sonst üblich, und lassen außerdem Nägel, Aufkleber und andere Reste sichtbar, die auf die Munitionskisten verweisen.


Die Motive selbst sind wiederum traditionell: Bilder von Jesus, Maria und Heiligen. Teilweise werden aber Gegenstände aus dem Krieg integriert. Der Schlüssel, das ikonographische Erkennungsmerkmal von Petrus, ist auf mehreren Ikonen ein Dosenöffner der Soldaten. Auf der jüngsten Bilderserie zu Maria, die im Frühjahr 2024 entstanden ist, wurden Patronenhülsen an verschiedenen Stellen verwendet, u.a. als Heiligenschein der Maria. Ich habe den Eindruck, dass die Bilder etwas „militärischer“ werden und man daran deutlich sieht, dass die langen Jahre des Kriegs ihre Spuren hinterlassen.


ree
ree

Wie beschreiben Sie die emotionale Wirkung dieser Kunstwerke auf Besucher der Ausstellungen? Was berührt die Menschen besonders an dem Konzept, Kriegsmaterial in Kunst umzuwandeln?

Das Projekt ruft häufig emotionale Reaktionen hervor – sowohl positive als auch negative. Es wird gefragt, ob es sich nicht um eine Verherrlichung von Krieg handle und das Projekt mit dem Segnen von Waffen zu vergleichen sei. Das ist ganz und gar nicht der Fall, sondern den Künstlern geht es vielmehr um die Botschaft des Friedens und der Hoffnung. Um das zu verstehen, muss man sich aber etwas mit dem Projekt oder dem Ikonenverständnis beschäftigen. Es geschieht, dass Menschen dazu nicht bereit sind und das Projekt dann auch sehr heftig ablehnen.


Andererseits lassen sich viele Menschen von den Ikonen berühren. Mir scheint, durch die Ikonen wird das Schicksal der Menschen in der Ukraine für sie konkreter und greifbarer. Sie nehmen Anteil daran und es entsteht ein Gefühl der Verbundenheit mit den Menschen dort. Ich erlebe bei den Ausstellungen viel ehrliches Interesse und die Ikonen hinterlassen einen tiefen Eindruck, der sich beispielsweise daran zeigt, dass ich ein dreiviertel Jahr nach einer Ausstellung immer noch regelmäßig auf die Ikonen angesprochen werde.


Sie haben erwähnt, dass religiöse Kunst auch politische Dimensionen haben kann. Was ist den Künstlern wichtiger: Glaube oder Politik?

Ikonen sind eine spezifische und eindeutig religiöse Bildform. Die Künstler betonen, dass es sich um ein Kunstprojekt handelt, aber ich habe den Eindruck, dass das nicht vom Religiösen getrennt wird. Die beiden haben auch eine politische Haltung – wahrscheinlich ist es in der Ukraine gerade kaum denkbar, keine politische Meinung zu haben – und die verheimlichen sie nicht; sie sagen in Interviews oder Gesprächen beispielsweise, dass die Ukraine für sie selbstverständlich das Recht hat, sich militärisch zu verteidigen.


ree

Mit den Ikonen scheint es mir aber vor allem um das Ermöglichen von Leben zu gehen, symbolisch, aber noch mehr konkret – das ist angesichts der existenziellen Bedrohung essentiell und, nebenbei gesagt, auch christlich notwendig; symbolische Hilfe allein wäre zynisch. Sonia Atlantova und Oleksandr Klymenko sammeln mit den Ausstellungen Spenden und verkaufen die Ikonen; der Erlös wird ebenfalls gespendet. So finanzieren die beiden zu einem nicht unerheblichen Anteil Hilfsprojekte mit, vor allem medizinische. Die Ikonen sind meines Erachtens somit in erster Linie eine Form des humanistischen und sozialen Engagements, mit dem Menschen zum einen Hoffnung gegeben werden soll, zum anderen aber auch in der Not geholfen wird.


Welche Bedeutung messen Sie der Kunst bei, insbesondere in Zeiten des Konflikts? Glauben Sie, dass die Kunst so etwas wie eine heilende Wirkung für die Betroffenen des Krieges haben kann?


Sonia Atlantova erzählt immer wieder, dass für sie der Schaffensprozess der Ikonen etwas Therapeutisches habe. D.h. für sie als Künstlerin haben sie eine helfende Wirkung. Daneben ist Kunst auch ein Ausdruck der aktuellen Situation, sie spiegelt die Erfahrungen und Sichtweisen der Menschen wider. Nicht nur Sonia Atlantova und Oleksandr Klymenko haben die Form der Ikonen aufgegriffen, sondern auch viele andere Künstler. Es findet sich eine große Bandbreite an Stilen, auch sehr verschiedenen zeitgenössischen, mit z. T. viel deutlicheren Bezügen zur Invasion oder mit eindeutigeren militärischen Aussagen als bei den beiden.


Ich weiß nicht, wie die Wirkung der Ikonen auf Betrachter in der Ukraine ist. Ich kann mir vorstellen, dass der direkte Blick der abgebildeten Heiligen manchen das Gefühl gibt, nicht allein zu sein. Und Maria, die sich häufig als Motiv findet, kann für Mütter, die ihre Kinder verloren haben, eine Art Schicksalsgenossin sein. Viele Ausstellungen der Ikonen finden aber auch im Ausland statt. Dort können sie zum einen den Ukrainern, die jetzt bei uns leben, etwas Heimat oder Vertrautes bringen, zum anderen hilft der Erlös des Ikonenverkaufs, Menschen physisch und psychisch zu heilen. Kunst kann also auch durch ihren materiellen Wert helfen, zudem kann sie durch die Konfrontation Mitmenschen aufrütteln, zum Spenden oder anderer Hilfe anregen. Das Projekt deckt damit verschiedene Bausteine ganzheitlicher Heilung ab, wenn auch auf verschiedene Personen verteilt.


bottom of page